Freester Teppiche: Alle hoffen auf die schwarzen Schafe

2022-12-08 11:57:56 By : Ms. Vicky Lei

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Als „Perser des Nordens“ gelten die Freester Fischerteppiche, die seit rund 100 Jahren in Vorpommern geknüpft werden. Jetzt sollen die Unikate in neuem Design auch für eine nachhaltige Zukunft stehen.

2. Juni 2022 TEXT: Annika Kiehn FOTOS: Martin Pauer

Ohne Handcreme geht es nicht. „Die Finger dürfen nicht trocken sein“, sagt Gisela Zeidler, während sie das beigefarbene Garn um die großen Holzrollen ihres Knüpfstuhls wickelt. Die Holzkonstruktion erinnert an überdimensionierte Teigrollen, die einen halben Meter voneinander entfernt in der Luft hängen und nun für die Aufspannung umwickelt werden. Wie der Maler eine Leinwand, braucht eine Teppichknüpferin ihre Garnfäden als Basis, um darauf das Sujet entstehen zu lassen. Sie greift in eine der kleinen Tüten neben sich, zieht einen drei Zentimeter langen Faden heraus und wickelt ihn wie eine Schleife um das Kettelgarn. So geht das weiter, Faden um Faden. Bis allmählich Muster entstehen: Möwen, Stranddisteln, Wellen oder Fische. Aus Mustern wird ein Teppich, ein Freester Fischerteppich. Gisela Zeidler knüpft seit mehr als 40 Jahren, ihre Werke hängen in der ganzen Welt: Kanada, Japan, Chile. 

Eng, aber gemütlich ist das Zimmer, in dem sie Reisereportagen auf 3sat guckt oder Musik hört, während sie knüpft. Rund 58.000 Knoten bindet sie auf einem Quadratmeter. 160 Stunden, ein normales monatliches Arbeitspensum, braucht sie durchschnittlich dafür. 1000 Euro kostet er. Abzüglich des Kettelgarns und der Wolle, die sie noch selbst färbt, kommt Gisela Zeidler auf einen Stundenlohn von rund vier Euro.  

Östlich der Hansestadt Greifswald, im Seebad Lubmin, wo das Atomkraftwerk steht, bewahrt die 73-Jährige als eine der Letzten die Tradition der Freester Fischerteppiche. Doch eines Tages stand Tom Schröder vor ihrer Tür und bat sie um Hilfe. Der junge Mann will das Handwerk bewahren. „Anfangs suchte ich für meine Ausbildung als Mediengestalter nur nach einem schönen Beispiel für konzeptionelles Denken“, sagt der heute 30-Jährige. Da kamen ihm die bunten Fischerteppiche in den Sinn, die er aus Schulzeiten kannte. Schröder ist in dem kleinen Fischerdorf aufgewachsen, wo alles begann. 

In seiner Abschlussarbeit, einem kleinen Buch in echter Fischhaut eingeschlagen, hat er das Design der Freester Fischerteppiche erörtert – und auch seine Vision für eine Neuinterpretation. Denn seither hat Schröder eine Mission: „Für mich als Freester Jung ist es undenkbar, dass dies Handwerk verloren geht.“  

Das Jahr 1928. An der südlichen Ostseeküste wird ein dreijähriges Fischfangverbot erlassen, damit sich die Bestände erholen können. Der Greifswalder Landrat Werner Kogge sucht nach einer alternativen Beschäftigung für die Fischer und kommt auf eine Idee: Wenn die Fischer Netze knüpfen können, warum dann nicht auch Teppiche?   Er gewinnt den österreichischen Musterentwerfer und Tapisseristen Rudolf Stundl, der die Fischer in die Technik des Teppichknüpfens einführt. Jeder Teppich ist ein Unikat. Die Vorgaben mit Spiegel und Rand, wie ein Passepartout, orientieren sich an Mustern aus dem Nahen Osten. Doch für Stundl passen die Motive des Orients nicht nach Vorpommern. Ein Blick in die Küstenlandschaft gibt schließlich den Kanon vor, der bis heute gilt. Das berühmteste Motiv ist der Dreifisch, der aus einem Kopf und drei Fischkörpern besteht, die sich im Kreis drehen. Er findet sich im Wappen des Fischerdorfs Freest.   Schnell haben sich die Teppiche als Kulturgut in das Leben hier integriert. Die Heimatstube in Freest erzählt noch heute von einer regen Textilkreativwirtschaft, die aus der Not heraus geboren wurde und von Lubmin über Stralsund bis nach Wolgast reichte. Der Charme der Freester Fischerteppiche gleicht dem der Erzgebirgskunst, es ist Folklore pur. Auf Fotos wirken die Teppiche überladen, gar kitschig. Doch wer sie in echt betrachtet und mit der Hand über das farbenfrohe, grobe Flor streicht, ist schnell verzaubert von der Leichtigkeit, die sie versprühen.  

„Ich kannte das Teppichwesen bis dahin nur von meinen Reisen in Asien, als ich mit Turkmenen auf Teppichen Tee trinkend in einer Jurte saß. Und plötzlich sehe ich dieses Produkt, das eigentlich der Wüstenkultur entspringt, in der absurden Kulisse Vorpommerns, die neblig ist und grau – und da knüpfen sie nach derselben Methode Teppiche, das ist total irre“, sagt Sebastian Schmidt an einem kalten Morgen im Koeppenhaus in Greifswald. Als Tom Schröder ihn mit seinem Vorhaben um Unterstützung bat, war er sofort begeistert.   Mit seiner gemeinnützigen FINC-Foundation hat Schmidt die Initiative „Hille Tieden“ gegründet, die das Erbe von Rudolf Stundl weiterführen möchte. Der plattdeutsche Name heißt übersetzt „Helle Zeiten“. Er steht für eine neue Ära, in der das angeschlagene Handwerk wieder aufblühen soll. Für die Textildesignerin Susan Krieger, die ebenfalls zum Kernteam gehört, geht es um mehr. „Wenn wir nur noch im Ausland fertigen lassen, verlieren wir nicht nur unsere Unabhängigkeit, sondern auch das Wissen über unsere Teppichkultur, die einmal wirklich bedeutsam war.“  

Die im Mai 1953 gegründete Produktionsgenossenschaft Volkskunst an der Ostsee markiert den endgültigen Durchbruch der Freester Fischerteppiche in der früheren DDR. In Heimarbeit wird das Handwerk vornehmlich von Knüpferinnen fortgesetzt. Bis zum Konkurs 1992 fertigen sie rund 6000 Teppiche. Die Krise beginnt jedoch schon 1972 mit Rudolf Stundls Abdanken: Er gibt die künstlerische Leitung auf, bestellt aber keinen Nachfolger aus Angst, sein Gestaltungskonzept könne negativ beeinflusst oder gar verfälscht werden. Mit seinem Ausscheiden verselbständigt sich die Freester Teppichkultur. In ihrer Heimarbeit setzen die Knüpferinnen die Interpretation der ursprünglichen Motive individueller um. Wer von ihnen heutzutage noch einen „echten“ Freester Teppich knüpfe, darüber seien sich selbst die Frauen untereinander uneinig, weiß Tom Schröder.   Mit „Hille Tieden“ soll die Marke „Freester Fischerteppiche“ wieder in feste Hände gelangen. Im vergangenen November haben die Mitglieder bei der deutschen UNESCO-Kommission einen Antrag gestellt, um die Fischerteppiche als immaterielles Weltkulturerbe aufnehmen zu lassen. Für Sebastian Schmidt ist der Neuanfang keine Frage von Duktus: „Bei einem Handwerk wie dem der Fischerteppiche handelt es sich um die mündliche Weitergabe von Methoden und Motiven, die von der subjektiven Wahrnehmung der Einzelnen geprägt wird, die es ausüben.“ Stundl habe die Form und Farbe stark vordefiniert.

Schmidt kümmert sich ehrenamtlich um eine Herde Rauwollige Pommersche Landschafe, die auf der Insel Oie, einem Naturschutzgebiet in der Vorpommerschen Bucht, zur Landschaftspflege eingesetzt wird. Die Wolle, heutzutage ein Abfallprodukt, soll in den Teppichen ihr Comeback erleben. Sebastian Schmidt, der aus Sachsen-Anhalt stammt und seit 20 Jahren in der Nähe von Greifswald lebt, hofft, mit den neuen Fischerteppichen ein Beispiel für eine nachhaltige Wirtschaftskette aus lokal produzierten Erzeugnissen zu erschaffen.  

Im ehemaligen Café des Koeppenhauses, das ihnen in den vergangenen Monaten als Produktionsstätte diente, liegen diverse Musterteppiche. Wo anfangen bei einem Produkt, das so traditionsgeladen und gleichzeitig so schwer zu erhalten ist? „Das Design der Teppiche hat sich ab den 80er-Jahren nicht mehr weiterentwickelt“, sagt Tom Schröder. Es sei an der Zeit, dass sie im 21. Jahrhundert ankommen: monochromatische Muster und grafische Linien. Weniger Farbe, keine Ränder, ein zurückhaltenderer Einsatz von Motiven. Ein Musterteppich in dunkelgrauer großer Fischform fällt dabei auf – mit dem Original hat er wenig gemein, doch sein kantiges Design hat etwas Zeitloses. „Mir ist wichtig, mutig zu sein und sich von der Vorlage durchaus zu distanzieren. Deshalb betonen wir auch, dass unsere Produkte nach der Vorlage der Freester Fischerteppiche entstehen“, sagt Schröder. Strandteppiche und Geschirrtücher haben sie bereits erfolgreich vermarktet. Nun wollen sie echte Teppiche herstellen.  

An der Wand hängen knapp fünfzehn verschiedene, postkartengroße Musterentwürfe: Mal sind sie mit Motiven übersät, ähnlich dem Original, mal eher minimalistisch gehalten. Bei der Greifswalder Kulturnacht im Herbst haben sie das Publikum abstimmen lassen – jeder Besucher sollte das Motiv markieren, das ihm am besten gefällt. Die meisten Striche zählte am Ende der taubenblaue Teppich mit weißen Stranddisteln, die sich mit klaren Linien sehr filigran auf der Fläche verteilen.  

Dabei wollen sie sich eher auf Grau- und Schwarztöne spezialisieren, wie die Wolle der Oie-Schafe sie hergebe. Bei der Weiterentwicklung treibt sie vor allem die Frage der Identität und Nachhaltigkeit um. Sebastian Schmidt sieht sie damit in der Tradition des schottischen Harris-Tweeds. „Die Farbtöne und Beschaffenheit des Stoffs spiegeln die raue Landschaft dort wider – genau dasselbe wünsche ich mir für die Fischerteppiche: dass sie die romantisch düstere Umgebung Vorpommerns abbilden, die schon Caspar David Friedrich inspirierte.“   Einen Versuch auf 40x40 Zentimetern hat eine professionelle Teppichknüpferin aus Iran gefertigt, die als Geflüchtete in Berlin lebt. In dem schiefergrauen Untergrund fügt sich zaghaft ein Vierfischmotiv ein, durchzogen mit filigranen beigen Linien und bordeauxfarbenen Kreisen. Die Knoten so klein, der Flor borstig und weich wie das Fell eines Fjordpferds. Ein Kunstwerk aus Wolle, das in jedes minimalistische Architekturbüro oder moderne Wohnzimmer sehr gut hineinpassen würde.

Susan Krieger findet ihn zu fein. „Das wird dem Freester Fischerteppich nicht gerecht. Das Grobe ist markant, das sollten wir beibehalten.“ Auch zu klein ist er ihr. Teppiche, die an der Wand hängen wie ein Makramee, findet sie scheußlich. „Wir brauchen hier keinen Teppich, der uns den Wind aus dem Zelt abhält. Er ist in erster Linie ein Gebrauchsgegenstand für den Boden, und dabei sollte es bleiben.“ Sie holt ein weiteres Musterstück hervor, geknüpft von einer Frau aus Wacken, die „Hille Tieden“ auf Instagram entdeckte und ihre Hilfe anbot. „Sie knüpft so schnell. Wenn wir zwanzig Frauen ihrer Sorte hier hätten, wäre die Umsetzung unseres Vorhabens wesentlich leichter“, sagt Susan Krieger und spricht damit das wesentliche Problem ihres Projekts an: Wer soll die neuen Teppiche herstellen?  

Monatelang ging Tom Schröder bei der Knüpferin Helga Grabow in die Lehre. Er versuchte sein Möglichstes und scheiterte. „Frau Grabow hat zwar nichts gesagt, aber ihr Blick gab mir zu verstehen, dass ich echt langsam war.“ Bei seinem Selbstversuch muss er einsehen, dass diese zeitaufwendige Methode nicht effizient ist. Susan Krieger rät Tom, Tuften auszuprobieren. Abgeleitet vom englischen Wort „tuft“, zu Deutsch „Büschel“, ist es eine der etabliertesten Methoden der zeitgenössischen Teppichherstellung. Selbst für Laien schnell zu erlernen und zu Hause anwendbar. Ähnlich wie bei einer Nähmaschine werden die Wollbüschel per Einnähverfahren im Stoff verhaftet, schnell und effizient.   Tom Schröder macht es vor. Er nimmt eine Garnpistole und beginnt, eine Bahn aus dunklen Wollfäden auf einen gespannten Leinenstoff zu ziehen. Es wird ohrenbetäubend laut und klingt wie ein Bohrhammer im Stimmbruch. 20 Sekunden für rund zehn Zentimeter. Nächste Bahn. „In wenigen Stunden hätte man einen Teppich“, sagt er. Die einzelnen Fäden würden zum Schluss auf der Rückseite verklebt werden. „Man kommt im Gegensatz zur klassischen Knüpftechnik wesentlich schneller voran“, sagt Tom Schröder. Doch Susan Krieger ist nicht überzeugt. „Für aufwendige Muster mit kurzen Bahnen, sagen wir fünf Zentimeter lang, ist die Methode aber nicht geeignet. Dann wird es schnell unsauber.“   Die Hoffnung steht nun im Erzgebirge: Dort haben sie einen Mann aufgespürt, der seine Teppichweberei aufgibt und ihnen einen seiner motorisierten Jacquardwebstühle abtreten würde. „In einem Affentempo kann die Maschine bis zu 100 verschiedene Garne einweben. Das kannst du mit dem bloßen Auge nicht mehr verfolgen“, sagt Schmidt, der am liebsten drei nehmen möchte. Einen Tag würde die Produktion eines 1,50 mal ein Meter großen Teppichs dauern, schätzt er. In einer Schauwerkstatt, so die Idee, würde künftig produziert werden. Sebastian Schmidt ist überzeugt: „Stundl hat eine Art Grundrauschen vorgegeben. Wenn es uns jetzt gelingt, hier in Vorpommern zu produzieren, und dann noch mit der Wolle der schwarzen Schafe, ist die Identität der Freester Fischerteppiche auf einem guten Weg.“ 

„Perser des Nordens“: Alle hoffen auf die schwarzen Schafe

Alle hoffen auf die schwarzen Schafe

Als „Perser des Nordens“ gelten die Freester Fischerteppiche, die seit rund hundert Jahren in Vorpommern geknüpft werden. Jetzt sollen die Unikate in neuem Design auch für eine nachhaltige Zukunft stehen.

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