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2022-12-08 11:58:56 By : Mr. John Chang

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Gebirgslandschaft in der russischen Republik Dagestan.

Gebirgslandschaft in der russischen Republik Dagestan.

Gebirgslandschaft in der russischen Republik Dagestan.

Die Kaukasus-Republik Dagestan hat im übrigen Russland vielerorts einen schlechten Ruf. Zu Unrecht, finden immer mehr Touristen und lassen sich verzaubern von einer Region voller atemberaubender Landschaften und herzlicher Menschen.

"Wohin? Wohin fährst Du? Nur mit Frauen? Bist Du verrückt geworden!?" Das sei die typische Reaktion gewesen, sagt Natascha, wenn sie jemandem von ihren Reiseplänen erzählt hat. Nun sitzt sie hier, in einem abgelegenen Bergdorf in Dagestan, an einem reich gedeckten Frühstückstisch. Auch Reiseleiterin Wika kennt die Vorbehalte vieler Russinnen und Russen gegenüber der Region nur zu gut: "Viele Touristen erzählen mir 'Oh, ich wusste nicht, wie ich meiner Mutter erklären soll, dass ich nach Dagestan fahre'".

Dagestan war lange bekannt als Russlands unruhigste Republik. Die Kriege in Tschetschenien hatten auch in der Nachbarregion ihre Spuren hinterlassen. Islamistischer Terrorismus made in Dagestan geriet immer wieder in die Schlagzeilen. Und auch die Anti-Terror-Einsätze der russischen Polizei, die nicht selten von Kameras gefilmt auch als politische Botschaft in den Nachrichten aufbereitet wurden, prägten das Bild einer Republik, in der sich Gewalt und Gegengewalt permanent ablösten.

Jemand, der das Bild in den Köpfen verändern möchte, ist Wika. Mit ihrem Ehemann Wanja ist sie von Moskau nach Machatschkala gezogen, der Großstadt am kaspischen Meer. Der Umzug in den Nordkaukasus, an den südlichsten Zipfel Russlands, war für sie auch eine berufliche Entscheidung. Seit vergangenem Frühjahr bieten sie touristische Touren an – durch eine Region von atemberaubender Schönheit.

Die Corona-Pandemie hat Dagestan einen regelrechten Touristenboom beschert: Die russischen Außengrenzen waren lange geschlossen – beliebte Reiseziele in Asien oder Europa unerreichbar. Viele Russinnen und Russen fingen also an, ihr eigenes Land zu entdecken – und damit auch die Bergregionen im Nordkaukasus. 2020 stieg die Besucherzahl auf 850.000, 2021 auf rund eine Million. Mit dazu beigetragen haben auch die sozialen Medien, wo in den vergangenen beiden Jahren immer mehr Bilder von den rauen und zugleich malerischen Berglandschaften auftauchten.

"Ich kann nicht glauben, dass es möglich ist, in nur zweieinhalb Stunden von Moskau in eine Region zu fliegen, deren Verbindung mit den eigenen Wurzeln so viel tiefer und spürbarer ist", sagt Alex, eine Moskauerin. Sie war schon viel in der Welt unterwegs – sowohl privat als auch beruflich. Dennoch läuft sie staunend durch die Ruinen einer mittelalterlichen Siedlung, die sich wie ein Fingerhut um eine Bergkuppe schmiegt. Nur einen schmalen Pfad entfernt liegt das Dorf Koroda, in dem noch heute rund 900 Einwohner leben. Stetig geht es bergauf, durch enge, lehmige Gassen. Die aus Natursteinen gebauten zweistöckigen Häuser sind teilweise verfallen – aus anderen ragen Kabel und Satellitenschüsseln. Vom höchsten Punkt des Dorfes, dem Platz vor der Moschee, führt ein kurzer Pfad zum ältesten Teil der Siedlung. Einer Ruine, die sich wie ein Fingerhut um die Bergkuppe schmiegt.

Begleitet wird die Reisegruppe von Sakir, dem Vorsteher der Dorfgemeinde. Seit einigen Monaten arbeitet er eng mit den Tourguides zusammen, die Reisende aus ganz Russland in das kleine Bergdorf bringen. Er begreift das gestiegene Interesse an Dagestan vor allem als Chance. "Wir möchten, dass die Menschen dieses Klischee loswerden. Wir möchten zeigen, wie wir wirklich sind – dass wir keine Barbaren sind. Wir freuen uns immer sehr über Gäste."

Und auch in der Hauptstadt Moskau freut man sich – über angesagte Vintage-Teppiche aus Dagestan. Ein junges Paar hat sich auf den Verkauf der handgemachten Woll-Ware spezialisiert und vermarktet sie geschickt auf Instagram. Einer, der die Metropole mit kräftig gemusterten Teppichen beliefert, ist Sejdulla. Schon beim Betreten des Hofs vor seinem Haus nahe der Küstenstadt Derbent, wird klar, dass hier ein echter Liebhaber wohnt.

Mit großen Gesten zeigt Sejdulla nacheinander auf die halben Dutzenden Teppiche, die ausgebreitet auf dem Boden liegen. Die meisten sind 50 bis 70 Jahre alt – sollen aber noch weitere hundert halten, verspricht Sejdulla. Immer wieder hebt er einzelne Ecken an und zeigt die langen Wollfäden auf der Rückseite. "Das ist kein Kunststoff - die Teppiche sind aus reiner Wolle, warm und wunderschön. Man wird noch in 10 oder 100 Jahren versuchen, Ihnen einen solchen Teppich abzukaufen. Es ist echte Handarbeit."

Am Abend ihres ersten Tages in den Bergen Dagestans ist bei der Reisegruppe um Wika von Angst und Sorgen überhaupt nichts mehr zu spüren. Vor dem Abendessen besuchen die drei Frauen gemeinsam mit Reiseleiterin Wika eine alte Mühle im Bergdorf Charikolo. Hier wird Urbetsch hergestellt, eine nahrhafte, natürlich-süße Nusspaste. Die traditionelle Köstlichkeit wird auch "Berg-Nutella" genannt. Gebannt schaut die Gruppe zu, wie Goleschat, eine Frau Ende 40, in schwarzem Sweatshirt und mit buntem Kopftuch Aprikosenkerne auf einem großen Blech hin und her schiebt. Darunter knistert ein Feuer, das von Goleschats Mutter ständig kontrolliert wird.

Dass sie im Raum alle verstehen können ist – vor allem in den Dörfern – keine Selbstverständlichkeit. In Dagestan gibt es mehrere Dutzend Volkssprachen; davon sind dreizehn – neben dem Russischen – offizielle Amtssprachen. Mit ihrer Mutter verständigt sich Goleschat auf Awarisch, spricht sie mit der Reisegruppe, wechselt sie mühelos ins Russische.

Dass sich die Region allmählich an das gestiegene touristische Interesse anpasst, ist in dem kleinen Bergdorf bereits spürbar. Bis vor einem Jahr gab es in Charikolo nur ein Gästehaus. Mittlerweile sind es drei. Weitere sollen dazu kommen. Auch ein Zeltplatz ist in Planung – sowie ein Schwimmbad, eine Reitanlage, ein Aussichtsturm und eine Hängebrücke über der Schlucht. Auch Wika und ihr Mann Wanja haben in den Monaten, die sie nun als Tourguides in Dagestan unterwegs sind, eine deutliche Veränderung beobachtet. Sorgen, dass Dagestan von Touristen komplett überrannt werden könnte, wenn erst einmal die Infrastruktur besser ausgebaut ist, machen sich Wanja und Wika nicht. Dafür sei die Region zu speziell.

Und auch sie wollen weiterhin dazu beitragen, diese Besonderheiten hervorzuheben. Damit ihre Gäste durch ihre Reisen Dagestan so kennenlernen, wie es wirklich ist.

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