Ein Bilderschatz für das queere Kulturerbe - queer.de

2022-12-08 11:59:56 By : Mr. Jeffrey Liang

Mit den Sammlungen Lifshitz und Sherman verdichten sich Hunderte von Fotografien zu einem historischen Manifest gegen Heteronormativität. Noch bis Januar sind sie im Rahmen der Ausstellungstrilogie "Queerness in Photography" in Berlin zu sehen.

Bilder sind politisch. Sie spiegeln Machtverhältnisse wieder und reproduzieren diese, indem sie einen manipulativen Ausschnitt der Wirklichkeit zeigen. Bilder hüllen ihr Motiv, um es in den Worten des Bildtheoretikers W.J.T. Mitchells auszudrücken, in einen "Schleier von Natürlichkeit und universeller Gültigkeit". Gerade das macht es schwer, sich ihrer suggestiven Kraft zu entziehen und zu erkennen, dass es bei ihnen in Wahrheit um einen "willkürlichen Mechanismus der Repräsentation" geht. Dazu gehört etwa die Inszenierung von geschlechtlicher Binarität und Kleinfamilie als mustergültige Lebensform, die uns seit jeher in Alltagskultur, Reklame und politischer Öffentlichkeitsarbeit mehr oder weniger unbewusst und in Dauerschleife um die Ohren gehauen wird. Bilder können jedoch auch subversiv sein. Aus diesem Grund werden sie häufig aufs Heftigste abgelehnt, zensiert oder sogar zerstört. Manche fristen aus Furcht vor gesellschaftlicher Ächtung ihr Dasein im Verborgenen. Zu jenen gehören etwa zahlreiche private Fotografien, die der Sammler Sébastien Lifshitz nun in der Schau "Under Cover. A Secret History of Cross-Dressers" präsentiert – als Teil der Ausstellungstrilogie "Queerness in Photography" im C/O Berlin. Porträts aus "vergammelten Schuhkartons" Die meisten Aufnahmen hat Lifshitz bei Ebay, in Trödelläden und auf Flohmärkten aufgespürt und zuhauf "in vergammelten Schuhkartons vorgefunden", wie er bei der Eröffnungsveranstaltung berichtete. "Sie wurden von niemandem beachtet." Doch der 1968 in Paris geborene Kunsthistoriker, der in den 1980er Jahren die ersten Bilder entdeckt hatte und sich mittlerweile europaweit einen Namen als Dokumentarfilmregisseur und Drehbuchautor gemacht hat, blieb beharrlich. Das Sammeln wurde ihm zur Obsession. Über Jahrzehnte trug er anonyme Schnappschüsse und feinfühlig wie auch glamourös arrangierte Porträts zusammen, die bis ins Jahr 1860 zurückreichen und allesamt eines gemein haben: Sie zeigen Menschen, die sich in Verkleidungen, in Posen oder mit Accessoires ablichten lassen, die von der Gesellschaft traditionell dem "anderen" Geschlecht zugeschrieben werden. Unklar bleiben die Namen der Akteur*innen, ihre persönlichen Beweggründe und die jeweiligen Entstehungsgeschichten der Bilder. In der Gesamtschau rückt allein der kollektive Wunsch in den Vordergrund, vor der Kamera gegen gesellschaftliche Erwartungshaltungen aufzubegehren und sich an eine selbstbestimmte geschlechtliche Identität heranzutasten. "All das sind keine modischen Fragen, die nur mit unserer Zeit zu tun haben", macht Lifshitz deutlich. "Das sind ganz grundsätzliche Fragen zum Menschsein, die beantwortet werden mit: Sei du selbst, sei frei!"

Lifshitz stellt für die Schau rund 400 Amateurfotografien zur Verfügung, die eine Zeitspanne von mehreren Jahrzehnten umfassen. Jede einzelne dieser Aufnahmen ist ein beeindruckender Akt der Selbstermächtigung. In ihrer Summe verdichten sie sich zu einem historischen Manifest des Widerstands gegen eine übermächtige Heteronormativität. Zweifellos ist die Sammlung ein bedeutender Beitrag zum queeren Kulturerbe – und eine pointierte Ergänzung und Erweiterung desselben, das bislang überwiegend von einem männlich-homoerotischen Blick bestimmt war. Für die Entwicklung eines schwulen Selbstverständnisses fielen vor allem jene Bilder ins Gewicht, die unmittelbar ein sexuelles Begehren zum Ausdruck brachten oder ein solches beim Betrachten auslösen sollten – von den Fotografien Wilhelm von Gloedens über die Zeichnungen von Jean Cocteau, Andy Warhol oder Tom of Finland bis zu den Bildern Robert Mapplethorpes. Bei den Aufnahmen der Lifshitz-Sammlung geht es hingegen um den spielerischen und experimentellen Umgang mit geschlechtlicher Identität, um das Suchen nach einer Rolle innerhalb einer binären heterosexuellen Gesellschaft – und um die Repräsentation von Zwischenstufen. Genau das zeichnet diesen Bilderschatz aus. Wer sind wir, und wenn ja, wieviele? Die Ausstellung widmet sich den unterschiedlichsten Facetten des Cross-Dressings und ordnet diese mittels übersichtlicher und informativer Beschriftungstafeln in ihren historischen Kontext ein. Von "flaming queens" und "Flappers" Im einführenden Text heißt es, die abgebildeten Männer seien zu ihrer Zeit "sehr wahrscheinlich als schwul, verweichlicht oder als 'flaming queens' angesehen" worden, auch wenn das Tragen von Kleidung, die gesellschaftlich dem "anderen" Geschlecht zugeordnet sei, nicht immer etwas mit der sexuellen Orientierung zu tun habe. Die Porträtierten könnten "durchaus auch trans, heterosexuell oder Fetischisten sein." Ganz sicher überschritten sie jedoch etablierte Normen und riskierten nicht nur gesellschaftliche Ächtung, sondern auch Haftstrafen oder die Einweisung in die Psychiatrie. Dies galt vor allem im 19. Jahrhundert, als sich das geschlechterspezifische Denken zuspitzte und "der Männlichkeit ein höherer Wert beigemessen" wurde – denn just "zu diesem Zeitpunkt hörten die Männer auf, die extravagante Kleidung des 17. und 18. Jahrhunderts mit schimmernder Seide, Bändern, Rüschen und Schleifen zu tragen, wodurch die Geschlechter deutlicher sichtbar voneinander abgesetzt wurden". Unter dem Deckmantel des psychiatrischen Diskurses wurde im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts schließlich die stigmatisierende Frage virulent, woran man die Homosexualität von Männern und Frauen erkennen könne . Man einigte sich darauf, dass die geschlechtliche Umkehrung des Erscheinungsbildes das offensichtlichste Merkmal sein müsse, obgleich das Cross-Dressing in der aufblühenden Subkultur nur von einer kleinen Minderheit und vereinzelt auch von Heterosexuellen praktiziert wurde.

Großen Raum nimmt in der Ausstellung das Cross-Dressing jener Frauen ein, die sich an der Schwelle zum 20. Jahrhundert "schleppender Kleider, knochenbrechender Korsetts, hoher Kragen und riesiger Hüte" entledigen wollten und sich nun tapfer in Männerkleidung hüllten. "Diese nach 1900 als 'neue Frauen' und in den 1920er Jahren als 'Flappers' bezeichneten Frauen waren Arbeiterinnen, Künstlerinnen der Bohème oder Revolutionärinnen, die alle je nach ihren Wünschen und Möglichkeiten den Grad der 'Männlichkeit' ihrer Kleidung anpassten" – was nicht selten "politische Kontroversen und Skandale" auslöste, wie es auf einer Ausstellungstafel heißt. "Orte der politischen und sexuellen Dissidenz" In den USA bot sich den Studentinnen von Frauen-Colleges bereits seit dem 19. Jahrhundert die Möglichkeit, bequemere Kleidung wie Bloomers – "weite, hosenartige Unterwäsche" – zu tragen, und bei Tanz- und Theateraufführungen war es ohnehin keine Seltenheit, dass Frauen Männerkleidung trugen. In der Neuen Welt genossen sie größere Freiheiten, hatten Zugang zu Bildung, auch wenn die Heirat der Karriere häufig ein Ende setzte. In dieser Zeit setzte das Cross-Dressing ein feministisches Zeichen und wurde zum Vorläufer des Drag-King-Kults im 20. Jahrhundert. Einen Schwerpunkt der Schau bilden selbstredend die vor Publikum auftretenden Dragqueens in Nachtclubs, Cabarets und Varietés, wo mitunter – wie in den Vereinigten Staaten – das Cross-Dressing ausnahmsweise toleriert wurde. Die Vergnügungsstätten blieben jedoch nicht nur "Brutstätten kreativen Talents", sondern entwickelten sich lange vor den 1960er Jahren auch zu "Orten der politischen und sexuellen Dissidenz". Eine Sonderform der Drag-Performance nimmt das Cross-Dressing während der Kriegsgefangenschaft in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts ein. Das Theater wurde zum Ventil und sollte einen Anschein von Normalität herstellen. Auf behelfsmäßigen Bühnen spielten Männer weibliche Rollen mit dem Ziel, eine perfekte Illusion zu vermitteln. Sogar die Körperbehaarung wurde sorgfältig entfernt, und häufig wurde die Performance auch außerhalb der Bühne fortgesetzt. Lange Zeit kehrte man das Cross-Dressing von Kriegsgefangenen unter den Teppich. Erst seit kurzem räumt die Forschung ein, dass "Frauenimitationen integraler Bestandteil des Lagerlebens in der Sowjetunion, Deutschland, Frankreich und den Vereinigten Staaten waren".

Der frühere queere Safe Space "Casa Susanna"

Der zweite Ausstellungsteil von "Queerness in Photography" knüpft inhaltlich unmittelbar an die Bilder von Livshitz an. Er stammt aus der Sammlung der Künstlerin Cindy Sherman, die sich seit den 1970er Jahren mit Fragen von Identität, Rollenbildern und Körperlichkeit beschäftigt. Vor zwanzig Jahren erwarb sie eine Reihe von Aufnahmen, die in den 1950er und 1960er Jahren in der "Casa Susanna" entstanden – so auch der Titel der Ausstellung. Dabei handelte es sich um ein abgelegenes Haus in den Ausläufern der Appalachen im US-Bundesstaat New York, das als Treffpunkt und Safe Space für eine Community von Crossdressern und trans Frauen diente. Ihre Mitglieder hatten so die Gelegenheit, jenseits gesellschaftlicher Ächtung und strafrechtlicher Verfolgung mit ihrer Identität zu experimentieren und in unterschiedliche Rollen zu schlüpfen. Mal waren sie das "Mädchen von nebenan", ein andermal die "Hausfrau", dann wieder die "Lady" oder auch die "Femme fatale" – mitunter nahm ein- und dieselbe Person mehrere dieser Rollen ein. Auch Livshitz steuerte zu dieser Ausstellung eine Anzahl von Fotografien bei, so dass erstmals mehr als 200 Bilder der "Casa Susanna" öffentlich an einem Ort gezeigt werden können. Beide Sammlungen dokumentieren nicht nur einen bemerkenswerten historischen Akt des Aufbegehrens, sondern dienen auch der kollektiven Selbstvergewisserung. Die queere Bewegung ist nicht nur auf Geschichte und auf das Bewusstsein ihrer Diversität angewiesen, sondern auch auf visuelle Darstellungen – einerseits für das Selbstbild, andererseits für die kulturelle Resonanz nach außen. Kein Katalog zur Ausstellung Einziger – jedoch unverzeihlicher – Makel an der Ausstellung ist das Fehlen eines Katalogs. Es ist auch kein solcher in Planung. Man kann nur hoffen, dass sich angesichts der bereits jetzt bzeichnenden hohen Zahl an Besucher*innen und der großen Zustimmung im Publikum doch noch ein Verlag findet, der dieses Event angemessen dokumentieren wird. Irgendwann wird man im Rückblick auf unsere Zeit das Festhalten an der obsessiven Aufteilung der Gesellschaft in die Kategorien Mann und Frau als eine der großen Kränkungen der Menschheit durchschauen. So wie einst die Erkenntnis zu Verdruss führte, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, dass der Mensch aus der Tierreihe stammt und dass sein vermeintlich freier Wille zu einem großen Teil vom Unbewussten gesteuert wird. Die Ausstellung "Queerness in Photography" im C/O Berlin wird dazu einen nicht unwesentlichen Teil beigesteuert haben. Die Ausstellung "Queerness in Photography" ist bis zum 18. Januar 2023 im C/O Berlin zu sehen. Eine ausführliche Besprechung des von Tilda Swinton kuratierten dritten Teils "Orlando" folgt.

Links zum Thema: » Mehr Infos zur Ausstellungs-Triologie "Queerness in Photography"

Mehr zum Thema: » Berlin leuchtet – auch ohne queeren Kultur-Leuchtturm (17.09.2022)

Mehr queere Kultur: » auf sissymag.de

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