Teppiche, die aussehen wie Kunstwerke: Bunte und modulare Modelle

2022-12-08 11:59:39 By : Ms. Yan Liu

Vier Ecken oder manchmal auch rund, eben in der Oberflächenstruktur und ja, ganz oft altbacken in Farben und Musterungen und im schlimmsten Fall gar aus synthetischem Gewebe – irgendwie so erinnert man sich an Teppiche. Als fast zeitgleich zur Popularität der Laktoseintoleranz die Hausstaubmilbenallergie zunahm, verzichteten viele auf das Anschaffen eines Teppichs, und er fristete lange Zeit ein trauriges Nischendasein.

Schade, denn der Teppich ist in zweierlei Hinsicht ein toller Einrichtungsgegenstand. Einerseits dämpft er Trittgeräusche oder gar die Geräuschkulisse eines Festgelages im eigenen Heim und schont die Nerven der Mieter unten dran. Andererseits setzt ein Teppich Akzente, die jedem noch so tristen Raum eine freudvolle, entschiedene Note verleihen können. Hinzu kommt, dass ein Teppich selbst den kältesten Boden barfuss begehbar macht.

Heutige Teppiche scheuen keine Farben, keine Unebenheiten und sind in den Formen so flexibel, dass sie selbst in einem Raum mit Kurve oder mehr als vier Ecken zum Erliegen kommen können, ohne wie hineingequetscht zu wirken. Zuweilen gibt es gar so phantastisch-schöne Kreationen, auf die man keinen Fuss setzen möchte. Einem Gemälde gleich finden diese dann ihren Platz an Wänden.

Die Amerikanerin Trish Anderson stammt aus Dalton in Georgia. Die Stadt gilt seit über einem Jahrhundert als Welthauptstadt der Teppichherstellung. Es verwundert also nicht, dass die Designerin nach Abstechern in andere Designbereiche ihre Aufmerksamkeit dem Tuft-Handwerk widmete. Andersons Teppiche für Böden und Wände sind wild, unkontrolliert und in Struktur und Farben ein Wechselspiel aus Faserlängen, Mustern und Formen. Die Teppiche bestehen, wie der hier oben Gezeigte, aus handgetufteter Wolle und werden auf Bestellung in Indien hergestellt. Einen Blick sollte man auch auf die Wandteppiche ihres Studios werfen.

Mit ihrem Berliner Label Lyk Carpet ermöglicht die Designerin Mareike Lienau den Einsatz eines Teppichs auf eine Art und Weise, die so flexibel sein kann wie sein Besitzer selbst. «Freeplay» lädt dazu ein, den Teppich immer wieder neu zusammenzusetzen: Ein grösseres Sofa, ein neuer Esstisch oder Sessel, ein anderes Zimmer – der Teppich passt sich spielend neuen Gegebenheiten an und kann sogar erweitert werden, indem einzelne Module nachbestellt werden. Die Farb-und Formenvielfalt der Serie ist vielfältig und lässt Freiraum für Akzente – in welche Richtung auch immer. Die Teppiche werden aus tibetischer Hochlandwolle in Nepal fair und sorgfältig unter Einsatz verschiedenster Knüpftechniken hergestellt. Lyk Carpet bietet neben Teppichen für Wände und Böden auch Hocker und Sitzkissen an.

Die Teppiche «Sentieri» von Amdl Circle, einem multidisziplinären Studio, das von Michele De Lucchi gegründet wurde, kann man wunderbar als Metapher für das eigene Leben anschauen. Für die mit Sitz nahe Brescia in Norditalien 2005 gegründete Plattform «Carpet Edition» wurde das modulare System «Sentieri» entworfen und erstmals 2022 auf der Möbelmesse in Mailand vorgestellt. Inspiriert ist das Modularsystem von alten römischen Pflasterstrassen und Mauern, bei denen sich jeder Stein in seiner naturgegebenen Form zu einem harmonischen Ganzen fügt. So wie im eigenen Leben auch, das ja nie aus einem Guss besteht, sind es die einzelnen Sequenzen, die die Persönlichkeit ausmachen.

Die einzelnen polygonen Elemente sind aus belastbarer Schurwolle (auch Hardtwist genannt) getuftet und werden über ein spezielles Klettverschlusssystem miteinander verbunden. Die Kombinationsmöglichkeiten sind unendlich und im Verlaufe der eigenen Lebensjahre immer wieder um weitere Elemente ergänzbar. Patchwork sozusagen mit der Freiheit, den Teppich immer wieder den eigenen Bedürfnissen anzupassen, um andere Akzente zu setzen oder neue Wege zu ebnen.

Der individuell zusammengestellte Patchwork-Teppich lässt sich über die italienische Plattform Carpet Edition bestellen. Hier kann man in einem 3-D-Programm den Grundstein für seinen eigenen Lebensteppich legen – wild oder harmonisch, ruhig oder laut, gross oder klein.

Die Arbeit «Insomnia» des in Madrid geborenen Künstlers Ruben Sanchez ist ein Kunstwerk, das man garantiert nicht auf den Boden legt. Denn die aus Acrylwolle getuftete Arbeit in einer Grösse von 195,6 × 127 × 3,2 cm ist mehr Gemälde, als Teppich. Die Schlaflosigkeit, die sich in dieser Arbeit ausdrückt, findet eine poetische, weiche Entsprechung in der Materialität, und man stellt sich vor, wie Schall und Lärm durch das Textile an der Wand gedämpft werden. So fühlt man sich ja auch, wenn einem die Schlaflosigkeit heimsucht, wie in Watte gepackt in einer traumartigen Welt.

Sanchez, ein Autodidakt, der sich in der Graffiti- und Skateboarding-Szene der 1990er Jahre bewegte, verfügt über ein reiches Repertoire an Keramik, Skulptur, gesprayten Gemälden oder Installationen. Die Wandarbeit «Insomnia» ist ein Unikat und noch bis 3. Dezember 2022 in der Ausstellung «Human Nature» in der Chicagoer Moberg Gallery zu sehen.

Die Teppichserie «The Floor is Lava» bringt auf poetische und auch auf verspielt-ironische Weise die Auswirkungen eines Vulkanausbruches zum Ausdruck. So wie sich flüssige Lava ihren Weg bahnt und irgendwann erstarrt, so sind auch die sechs Entwürfe von Placée das Ergebnis eines Prozesses, dessen Ende offen bleibt. Die verschieden geformten Teppiche in knalligen Farben oder in Schwarz-Weiss sind wie alle bereits vorgestellten Teppiche unkonventionell in den Formen. Gerade bei dem oben gezeigtem Stück eröffnen sich auf wunderbar unterhaltsame Weise Möglichkeiten der Platzierung, die das Mobiliar entweder konterkarieren oder unterstützen.

Das macht nicht nur Spass, sondern lässt alles in einem Raum miteinander in Beziehung treten. Die «Lava»-Teppiche bestehen aus Naturfasern, wie tibetischer Wolle und Tencel, und sind handgetuftet. Bei einem Besuch der Website zeigt sich allgemein, dass auch andere Designobjekte, wie die Vasen der Serien «Creamy» und «Stratos», des Studios eine durchaus wilde und energetische Schlagkraft haben.

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